Wednesday, November 01, 2006

Lula und die Expertin des Deutschen Bundestages


Es ist schon ein Kreuz mit unserer Weltexpertin: vor einem Monat schrieb sie noch:
Im Gegensatz zu anderen, radikaleren Regierungen, die aus dem Linkstrend hervorgegangen sind, verfolgt der brasilianische Präsident einen moderaten Politik- und Wirtschaftskurs und kann damit auch künftig ein verlässlicher Partner sein.
Und nun ist Lula wiedergewählt und da heißt es plötzlich:
Die knappen Wahlen in Brasilien haben vor allem eins gezeigt: Die Wiederwahl Luis Ignacio Lula da Silva hat nicht mehr die uneingeschränkte Fürsprache der Brasilianer gefunden. Zu sehr ist Lulas Arbeiterpartei (PT) in Korruptionsaffären verstrickt, hat seine Politik das Land in reich und arm gespalten. Letztlich ist sein Herausforderer Geraldo Alckmin gestärkt aus der Stichwahl hervorgegangen, auch weil sein liberaler Wirtschaftskurs ihm vor allem die Stimmen der Mittelschicht Brasiliens eingebracht haben.
Also verfolgt Lula nun plötzlich keinen "moderaten Politik- und Wirtschaftkurs" mehr?
Wenn man die Pressemitteilungen dieser (Latein-) Expertin so ließt kommt es einem langsam so vor, dass es nicht nur am Expertenwissen über Lateinamerika, sondern allgemein am Wissen doch erheblich mangelt. Innerhalb eines Monats wird die Meinung mal schnell fundamental gewandelt oder ist es doch nur die Suche nach irgendeinem Kritikpunkt, weil man sonst nix zu sagen hat.
Auffällig ist, dass die Expertin an einem grundsätzlichen Wahrnehmungsproblem leidet. Lula hat im ersten Wahlgang 48,61 Prozent erreicht und siegte im zweiten Wahlgang mit einer Mehrheit von 60,83 Prozent gegenüber seinem Rivalen, der auf 39,17 Prozent gelangte. Dies sind keine sozialistischen 99 Prozent, aber es ist ein deutliches Zeichen an einem Kandidaten, dass er die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung vertritt. Richtig ist dabei, dass Lula bei der vorangegangegen Wahl vo vier Jahren bereits im ersten Wahlgang gewonnen hat und die Korruptionsskandale in seiner unmittelbaren Umgebung ihm diesen Triumph genommen haben.
Richtig ist aber auch, und hier scheint die Wahrnehmungsfähigkeit der Expertin aufzuhören, das Alckmin im ersten Wahlgang 41,6 Prozent der Stimmen errungen hat und damit in der Stichwahl an Zustimmung einbüßte. Eine Stärkung sieht normalerweise anders aus.

Auch stellt sich die Frage, welchen "liberalen Wirtschaftskurs" Alckmins die Expertin anspricht. Einen wirklichen Kurs kann er dabei nicht eingeschlagen haben, da dieser bisher nur im Wahlprogramm gestanden hat.


Dies sind die fehlerhaften Wahrnehmungen einer Expertin in Fragen Interpredation von Wahlergebnisse. Aber es geht noch weiter in dem Spagat zwischen Realität und der Traumwelt der Experten der Entertainmentopposition.
Brasilien muss auch auf dem internationalen Parkett klare Signale und Prioritäten setzen. Als wichtigstes Land in Südamerika sollte Brasilien eine Schlüsselrolle bei den WTO-Verhandlungen einnehmen. Doch Brasiliens Forderung nach Senkung der Zölle in der EU darf keine Einbahnstraße sein. Brasilien muss seinen Protektionismus ebenso aufgeben und die hohen Industrie-Tarife endlich abbauen. Auf der anderen Seite sollte sich Brasilien mit allerlei Engagements in internationalen Verbänden und dem Streben nach einer Vorreiterrolle in Südamerika nicht wie bisher verzetteln.
Es ist zwischenzeitlich in der entwicklungs- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung anerkannt, dass sich entwickelnde Länder ein gewisses Maß an Protektionismus zwingend benötigen. Dies mag den Rambomanieren einer Entertainmentopposition, die sich dem Streben nach dem Nachtwächterstaat verschrieben hat, zuwider sein. Realität bleibt es trotzdem.
Und es ist ein gewisses Maß an Dreistigkeit die Forderung zu erheben, nachdem man sich dank einem Höchstmaß an Protektionismus selbst entwickelt hat. Das dies sich entwickelnde Staaten nicht wirklich ernst nehmen können, müsste einer Experten eigentlich klar sein.

Und es müsste ihr eigentlich auch klar sein, dass die WTO-Verhandlungen vor allem an den Industriestaaten des Nordens, weniger an den berechtigten Forderungen der Entwicklungsländer gescheitert sind. Die Weigerung, von Agrar- und Textilschutzimporten abzurücken ist hier noch in guter und böser Erinerung.

Diese Signale muss Lula wahrnehmen und die Politik der Almosen durch eine Politik des wirtschaftlichen Wachstums ersetzen, von der letztlich alle profitieren.
Die Realität sieht wohl ein wenig anders aus, wie der sachkundige Report eines anerkannten Magazin zeigt:
Die Armen verehren den Präsidenten fast wie einen Heiligen. Sie sehen in dem einstigen Schuhputzer und Straßenverkäufer einen der Ihren. Er hat sie nicht enttäuscht: Millionen armer Brasilianer sind unter Lula in die untere Mittelschicht aufgestiegen, die ungerechte Einkommensverteilung - nur in einigen afrikanischen Ländern ist der Abgrund zwischen Arm und Reich größer als in Brasilien - hat sich in seiner Amtszeit verbessert.
(Spiegel Online 30. Oktober 2006)
Diese anhand von Fakten gestützte Darstellung weicht um einiges von dem ab, was die etwas polemische und von schlechtem Expertenwissen geprägte Behauptung unserer anerkannten Expertin.

Auch innerhalb Südamerikas ist Lula gefordert. Dem zunehmenden Linksruck und der Verstaatlichung von Privateigentum auf dem Kontinent muss Lula ein Gegengewicht entgegensetzen. Besonders gegen Venezuelas Präsident Huga Chavez sollte die Politik Lulas klar Stellung benziehen, um stabilisierend auf den Kontinent zu wirken.
Die Realität und Wirkungsweise souveräne Staaten scheint für die Expertin ein regelrechtes Fremdwort zu sein. Der brasilianische Präsident hat nicht die Möglichkeit, Anordnungen zu treffen und Chavez Politik findet in Südamerika dank auch der Politik der USA und Europas Nachhall. Und der Expertin übersieht auch, dass Lula nicht einfach gegen Bolivien "in den Krieg ziehen kann", wie es der erste Reflex Lulas vielleicht wollte. Brasiliens Wirtschaft ist viel zu stark von den Gasimporten aus dem nordwestlichen Nachbarland abhängig, als das es viele Möglichkeiten hätte und so gezwungen, eine Verhandlungslösung zu erreichen. Und betrachtet man die bolovianische Gaswirtschaft, die geprägt ist durch ausländische Konzerne ohne einen wirklichen Mehrwert für das Land so erscheint die temporäre Verstaatlichung der durchaus richtige Weg zu sein.

Und das Wort "Linksruck" geht der Expertin immer noch so leicht über die Lippen, als wären eher Komplexe der Ausschlag als Sachkenntnis. Man kann nur hoffen, dass der Spuck der Experten im Bundestag ganz schnell vorübergeht.


Wahlanalyse der Konrad-Adenauer zur Präsidentschaftswahl am 1. Oktober 2006 und zur Stichwahl am 29. Oktober 2006
und der Stiftung Wissenschaft und Politik

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