Sunday, October 30, 2005

Lebensziel Bundeskanzler

Der Andrang in den Buchläden wird in der kommenden Woche sicher nicht ganz so stark sein wie Anfang Oktober. Helmut Kohls "Erinnerungen" sind doch offenbar nicht ganz so spannend wie J.K. Rowlings "Harry Potter und der Halbblutprinz" - zumindest für eine breite Öffentlichkeit (nicht mehr).

Als vor eineinhalb Jahren der erste Teil seiner "Erinnerungen 1930-1982" herauskamen, war der Andrang da noch größer und auch die mediale Öffentlichkeit bereitete das Ereignis vor. Der Spannungsbogen war groß, denn auch Werner Weidenfeld schrieb in seiner Rezension: "Wenn ein Gigant der Zeitgeschichte zum Diktiergerät greift, dann ist ihm große Aufmerksamkeit gewiss. Man will wissen, wie es wirklich gewesen ist. Erst recht bei jemandem, der so markant in den Lauf der Geschichte eingegriffen hat wie Helmut Kohl." In diesem Teil schrieb Kohl noch zu der Frage, wie er die Macht als Bundeskanzler errungen hat, wie er sie verteidigt hat und wie mit den Großen der Union umgegangen ist. Liest man seine Biographie (Teil I), so fällt doch auf, dass er sowohl mit Ludwig Erhard wie auch mit Kurt-Georg Kiesinger ein Verhältnis hatte, bei dem er sich erlauben konnte, auch in der Stunde des Auszugs aus dem Bundeskanzleramt "bei ihnen zu sein" - moralisch und geistig. Kohl vergißt nicht, wer seine Förderer sind und Kohl hat sich bereits früh mit einer Machtaura umgeben, die von Taktik und Instinkt geprägt war. Sein Lebensziel war Bundeskanzler und dafür brauchte er nicht an den Toren jenes Amtes zu rütteln.

Und nun kommt der zweite Teil heraus: Erinnerungen 1982-1990. Es verblüft, dass Kohl genau dort endet, wo sein eigentlich historisches Lebenswerk erst anfängt - und sein Abstieg beginnt. Die Deutsche Einheit war das zentrale Projekt des Bundeskanzlers Kohls, sein Instinkt und sein Machtwille haben es entscheidend vorangebracht. Die Umsetzung - die Zusammenführung der beiden Teile in ein neues Deutschland - lässt Kohl (diesmal) ausgespart.
Es wird jedoch auch so spannend genug, den Kohl stand im Herbst 1989 eigentlich am Ende seiner Kanzlerschaft: das Programm von 1982 war abgearbeitet und seine innerparteilische Machtbasis war erodiert. Eine kleine verschwiegende Truppe um Kohls eigenen Generalsekretär Geißler herum suchte einen Nachfolger für den "Giganten der Zeitgeschichte". Kohl, der sich gegen alle Spötteleien der Presse über seinen Politikstil und seine Sprechweise ganz nach oben gekämpft hatte, sollte von seinen engsten Mitarbeitern gestürzt werden. Und hier wird es spannend werden: wie hat Kohl selbst diese Zeit empfunden und welche Gefühle hat er heute gegenüber seinen damaligen Widersachern. Einen kleinen Einblick hat er bereits in einem ARD-Porträt gegeben, nun schreibt er selber und es ist zu erwarten, dass Kohl Tacheles spricht.
Und es wird interessant, wie Kohl die Kontakte zu Michael Gorbatschow, zu Francois Mitterrand, zu Maggie Thatcher und zu Georg W. Bush sieht. Nur letzter hat von Anbeginn vorbehaltlos Kohls Kurs der Deutschen Einheit unterstützt. Gorbatschow mußte erst überzeugt werden und konnte auch dann nur damit für die Deutsche Einheit gewonnen werden, in dem Kohl half, seine Position innerhalb der Sowjet-Oligarchie abzustützen. Mitterrand wie Thatcher waren dann jedoch eher getriebene, die sich den Tatsachen fügte - und dennoch war das Verhältnis zwischen Kohl und Mitterrand in der Frage der europäischen Einigung immer der Motor dieses Prozesses.

Aber es kann auf den dritten Teil der Biographie gewartet werden - und alle sollten hoffen, dass auch dieser Kohl noch kommt. Denn dies ist die Zeit der europäischen Einigung, der neuen internationalen Ausrichtung des nunmehr souveränen Deutschland und des inneren Einigungsprozesses. Und es ist auch die Zeit, in der sich Angela Merkel zur Kanzlerin aufmachte, in der Kohl sich innerlich abschottete und in der seine Macht bröckelte. Es ist auch die Zeit, in der Kohl die Grundlage für einen der größten Parteispendenskandale der Republik legte und in der Kohls für Deutschland historische Abwahl vom 27. September 1998 liegt.

No comments: